SOS Kinderdörfer über Corona und Geschlechtergerechtigkeit

8. März 2021, mit Marina Löwe

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Marina Löwe: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Female Leadership, dem Podcast über Geschlechterfragen in Führung.

Heute nehmen wir mal einen etwas anderen Blick auf das Thema Geschlechterfragen in Führung und gucken global und insbesondere auch auf das Thema, was macht eigentlich Corona gerade mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit. Ich freue mich sehr, dass Julia Selle heute bei mir ist. Sie ist Leiterin des Repräsentanzbüros von SOS in Düsseldorf und Boris Breyer. Du bist Pressesprecher und langjähriger Mitarbeiter bei SOS Kinderdörfer.

Die SOS Kinderdörfer sind ein unabhängiges Kinderhilfswerk mit Projekten in 137 Ländern. Ziel ist, den Teufelskreis zu durchbrechen und Kinder, die einen schweren Start in ihr Leben hatten, zu eigenständigen Persönlichkeiten werden zu lassen. Die Projekte kommen dabei aber nicht nur einzelnen Kindern und Familien zugute, sondern verändern sogar ganze Gesellschaften. Darüber wollen wir heute auch nochmal reden, was die Arbeit von SOS Kinderdörfer wirklich auch für die Länder und die Gesellschaften vor Ort bedeuten können. In den vergangenen sieben Jahrzehnten wuchsen weltweit 255.000 Jungen und Mädchen in SOS-Kinderdörfern auf. Rund 3,7 Millionen weitere Kinder erhielten Unterstützung in ihrer Herkunftsfamilie. Und über 90 Prozent von ihnen leben heute als Erwachsene ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut. Das heißt, diese Arbeit zeigt einfach Wirkung. Und viele tragen heute selbst zu Verbesserungen in ihren Gemeinden bei. Eine unabhängige Wirksamkeitsstudie belegt, dass eine langfristige positive Veränderung des Lebens stattfindet durch die Unterstützung bis sogar in die nächste Generation. Also ich bin schon mal sehr, sehr beeindruckt nur über die Fakten, die ich von euch gefunden habe. Und wir werden heute auch darüber sprechen, wie ihr euch für das Thema Geschlechtergerechtigkeit einsetzt. Und als allererstes gerne meine Frage an euch. Was hat euch eigentlich in den letzten Monaten besonders berührt? Welche Geschichte oder auch welche Begegnung oder welche Fakten haben bei euch besonders Nachdruck hinterlassen? Boris, ich starte gerne mal mit dir.

Boris Breyer: Ja, was mich besonders beeindruckt hat, ist auf einmal, unsere Arbeit lebt in Wahrheit davon, dass Mitarbeiter, dass Kollegen vor Ort sind und direkt Kontakt haben mit den Menschen, denen wir helfen. Und für mich gerade in der Rolle als Pressensprecher ist es jetzt so, dass ich nicht mehr irgendwo hinreisen kann und die Leute sehe, sondern nur noch mit unseren Mitarbeitern von Ort per Telefon, per Mail Kontakt habe und zu sehen, wie gerade in so einer existenziellen Krise wie dieser Pandemie unsere Leute vor Ort trotzdem, also wirklich direkt an der Front mit den Menschen arbeiten und sich Tag für Tag für die Menschen, mit denen wir arbeiten, einsetzen, ist immer wieder berührend.

Marina Löwe: Hast du ein Beispiel, wo gerade die Situation in den letzten Wochen auch nochmal besonders dramatisch sich entwickelt hat?

Boris Breyer: Besonders schlimm oder was mir sich am einbrennendsten eigentlich darstellt, ist die Situation auf Lesbos in Griechenland. Das heißt, wir haben es da nicht nur mit sowieso benachteiligten Familien und Kindern, mit denen wir arbeiten, zu tun, sondern wir haben es mit Menschen auf der Flucht zu tun, die schon vor Corona in einer für uns unvorstellbaren Weise bedroht waren. und Und nun sind die in Bedingungen, in diesen Lagern auf Lesbos, die man sich eigentlich so gar nicht vorstellen kann. Und unsere Leute sind da tagtäglich vor Ort, arbeiten da, versuchen irgendwie Zugang zu den Kindern zu können, schaffen es wirklich, die weiterhin auch mit Bildung zu unterstützen, virtuelle Klassenzimmer einzurichten, Laptops zu organisieren, psychosoziale Hilfe zu leisten. Das ist schlichtweg beeindruckend.

Marina Löwe: Da kommen ja echt auch noch einfach viele Herausforderungen zusammen. Du bist nicht mehr in deiner gewohnten Kultur, du bist nicht mehr in deinem Zuhause, du bist ohnehin schon auf der Flucht und entrissen von vielen Sachen und hast jetzt auch noch eine Situation, wo du auch nicht ankommen kannst und dann mit Corona auch die Hilfe von außen abgeschnitten ist. Das kann ich mir nicht ansatzweise vorstellen, wie das gerade auch für die Mitarbeitenden vor Ort sich anfühlen muss. Julia, was ist das, was für dich am meisten hängen geblieben ist in den letzten Monaten?

Julia Selle: Also ich würde da das Stichwort Improvisationstalent nennen. Das ist so ein bisschen das, was der Boris gerade auch schon gesagt hat. Also zum einen auf der Seite der SOS-Helfer, die die Familien nicht mehr besuchen können, die aber dringend auf Hilfe angewiesen sind aufgrund von Lockdown und Ausgangssperren. Das ist aber auch das Improvisationstalent. Der Menschen, die von heute auf morgen ihren Job verloren haben, also die Tagelöhner, die eben nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre Familien zu versorgen und die keine Reserven haben, die also an Tag zwei im Prinzip schon kein Essen mehr auf den Tisch stellen können. Und wie sich da auch Gemeinschaften gebildet haben, wie sich Menschen zusammengetan haben unter dem Stichwort Improvisationstalent. Das hat mich schon beeindruckt.

Marina Löwe: Kannst du da auch ein Beispiel teilen, wo du gesehen hast, wie diese Improvisation und Zusammenarbeit aussehen kann, ganz konkret?

Julia Selle: Ja, ganz konkret kommt mir da eine Schule in den Sinn, eine improvisierte Schule in einer Kirche, wo eben die Kirchenbänke rausgetragen wurden. Das war in Ghana und kleine Plastikstühlchen im Abstand von anderthalb Metern eben aufgestellt wurden und dann vorne in der Kirche unterrichtet wurde, um eben möglichst viele Kinder zu erreichen. Und das sind so Sachen, die dann wirklich auch einen großen Nutzen haben für die Kinder vor Ort.

Marina Löwe: Also eine ganz große Rolle spielt ja bei euch eben die Begleitung familiär gesehen. Also psychosoziale Hilfe hast du gerade schon angesprochen, Boris, aber eben auch ein ganz großer Hebel, den ich bei euch beiden jetzt rausgehört habe, Bildung. Wenn wir jetzt auf das Thema Geschlechtergerechtigkeit gucken, was ist denn da für euch vor allen Dingen das, wo SOS Kinderdörfer bei dem Thema ansetzt? Also wie ermöglicht ihr da mehr Gleichstellung oder auf welche Wege macht ihr euch da auf?

Julia Selle: Also ich würde ganz gerne mit dem Thema Bildung nochmal eben anfangen und meiner Antwort da auch ein paar Zahlen sozusagen vorausschicken, die glaube ich deutlich machen, wie die weltweite Situation zum Thema Bildung und da auch gerade zum Thema Benachteiligung von Mädchen und Frauen aussieht. Also weltweit gehen 61 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht zur Schule. Das ist natürlich eine immens große Zahl und die Mehrheit von ihnen sind nach wie vor Mädchen. Das ist vor allen Dingen in Afrika, südlich der Sahara so und auch in einigen afrikanischen Ländern, dass Kindern und gerade Mädchen häufig der Zugang zu Bildung einfach verwehrt wird. Also ein Beispiel aus Eritrea, da werden zwei Drittel der Mädchen gar nicht erst eingeschult. Zwei Drittel. Und wenn es dann dazu kommt, dass die Mädchen es auf eine Schule geschafft haben, dann sind sie es leider auch, die die Schule frühzeitig abbrechen müssen. Also in Indien schließt nur jedes dritte Mädchen die Grundschule ab. Und daraus resultiert natürlich auch leider, dass zwei Drittel der weltweiten Analphabeten nach wie vor Frauen sind. Häusliche Gewalt und die Ausbeutung im Arbeitsleben, kurz gesagt die Unterdrückung der Frau, beruht ganz wesentlich darauf, dass Mädchen eben das Recht auf Bildung vorenthalten wird. Wenn Frauen eine Schule- oder Berufsausbildung bekommen, dann können sie sich viel besser gegen Bevormundung und gegen Diskriminierung wehren. Und wir sehen in unserer Arbeit, dass sie dies auch tun. Also Frauen sind selbstbewusster, wenn sie eine Ausbildung haben. Sie kennen ihre Rechte und sie setzen sich vor allen Dingen dafür ein. Und wenn wir die Bildungschancen von Mädchen und Frauen verbessern, dann heißt das auch, dass wir die weltweite Armut bekämpfen. Frauen arbeiten ja ganz oft in den Niedriglohnsektoren in vielen Ländern. Und Frauen, die zumindest mal eine Grundschule besucht haben, die können einfach auch zum Familieneinkommen beitragen. Sie haben die Chance, ihre Kinder gesünder zu ernähren und sie unterstützen ihre Kinder auf dem Weg in die Ausbildung. Vielleicht sogar bei der Selbstfindung. Sie wissen eben, wie es ist, selbst eine Ausbildung erfahren zu haben. Und deswegen ist auch ein Grundprinzip unserer Einrichtungen, dass immer mindestens die Hälfte der betreuten Kinder und natürlich Schüler eben weiblich sind. Kurz gesagt, die Schulbildung und die anschließende Ausbildung, das ist das, was wir bei SOS Kinderdörfern ganz, ganz zentral in den Mittelpunkt rücken, um eben allen Menschen, aber besonders auch Frauen und Mädchen den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Boris Breyer: Und genau das wird ja auch durch die Pandemie jetzt gerade verstärkt, die Problematik. Das heißt, wir gehen davon aus, dass ganz viele Kinder, die jetzt über Schulschließungen und so weiter, nicht mehr, oder Mädchen, die jetzt über die Schulschließungen nicht mehr in die Schule gehen können, dass der Weg zurück wieder in die Schule für die allermeisten verschlossen sein wird. Weil man ja sieht, dass Familien sind jetzt vor so existenzielle Herausforderungen gestellt, gleiten jetzt in die Armut ab, die Einnahmen brechen irgendwie weg. Das heißt, sie sind darauf angewiesen oder meinen darauf angewiesen zu sein, dass die Mädchen zu Hause arbeiten, dass diese Mädchen wieder zurück an die Schule kehren. Ist sehr unwahrscheinlich oder sehr schwer.

Marina Löwe: Und sag mal, Boris, welche Rolle spielt da Bildung auch für die Männer? Also welche Rolle haben die Männer in diesem ganzen Verständnis und auch in dem Bild auf die Frauen in den Kulturen?

Boris Breyer: Sicherlich ist es so, dass auch natürlich Jungen von zum Beispiel Kinderarbeit betroffen sind und nicht an die Schulen gehen. Aber ganz generell kann man schon sagen, dass Mädchen noch mal stärker von diesen alten Rollenbildern betroffen sind. Also dass Mädchen mal grundsätzlich Bildung zum Beispiel gar nicht erst in Frage gestellt wird, sondern wenn überhaupt einer in der Familie in die Schule geht, dann sind es dann doch meistens die Jungs und eher nicht die Mädchen.

Marina Löwe: Und wir haben ja vor unserem Gespräch schon mal überlegt zu fragen, was ist das eigentlich, was ich kulturell begreifen muss, wenn ich jetzt in meiner Bubble Deutschland, Europa lebe? Was muss ich kulturell begreifen, um zu verstehen, was die gesellschaftliche Herausforderung vor Ort auch ist? Wir haben gerade ja schon auch drauf geguckt und gesagt, dadurch, dass ihr eben diese Kinder über die SOS-Kinderdörfer berührt und bewegt und auch auf die Familien Auswirkungen habt, habt ihr eben auch einen Impact auf die Gesellschaft vor Ort. Aber was muss ich erstmal verstehen, wenn ich in diese unterschiedlichen Kulturen gucke? Was ist da grundsätzlich eigentlich für ein Bild auf das Thema Jungen und Mädchen, Männer und Frauen? Also was begegnet euch da noch?

Boris Breyer: Wir haben es hier, glaube ich, mit ganz anderen Rollen, Verständnissen und Traditionen zu tun. Das heißt, grundsätzlich kann man das schwer vergleichen mit der Situation in Deutschland, also über Emanzipation. In dem Sinne brauchen wir in vielen Ländern in Afrika, aber auch in Asien noch überhaupt gar nicht zu sprechen. Also da ist es tatsächlich so, dass das Bild nach wie vor so ist, dass die Frau zu Hause den Haushalt zu leiten hat und sich um die Kinder zu kümmern hat und der Mann im Besten. Falle die Familie ernährt. Nur faktisch ist es so, ich war jetzt vor kurzem erst gerade in Südafrika in einem großen Slum und habe gesehen, dass es in Wahrheit dann doch die Frauen sind, die das ganze Leben eigentlich reißen, kann man so sagen. Weil die Männer, die zwar dieses Bild haben, sie müssten das irgendwie leisten, haben in Wahrheit aber dann keine Arbeit, haben keine Bildung, können diesem Rollenbild gar nicht entsprechen und brechen dann oft auch psychisch unter diesem Druck zusammen, was oft dazu führt, dass dann eben extremer Drogenkonsum, Alkohol, häuslich Gewalt irgendwie herrscht und dann doch, das habe ich sehr so erlebt, die Frauen oft das Zepter übernehmen und schlussendlich die Verantwortung in der Familie.

Marina Löwe: Also mich hat damals auch berührt, weil ich über eine Geschäftsreise nach Johannesburg gereist bin. Damals auch, wir in Soweto waren, das ist ja das größte Township. Und auch da, wenn man da vorher nicht drüber nachdenkt, das sind ja Millionen, die da leben. Ich glaube, Soweto, der eine Teil, in dem wir waren, ist so groß wie ganz Hamburg von der Einwohnerzahl. Und auch diese Dimensionen vor Ort zu spüren. Und ihr habt es gerade schon gesagt, diese Tagelöhner, das hat sich mir unheimlich ins Gedächtnis eingebrannt, dass an jeder Ecke Menschen stehen, die versuchen, in diesem Moment irgendwie zu Geld zu kommen. Also egal, ob die Hilfe beim Einparken oder an der Ampel irgendwie dir den Müll abnehmen oder irgendwas an Zeugs am Straßenrand verkaufen, dass es alles so sehr von heute auf morgen lebt. Also gar nicht so wie wir jetzt auf ein soziales Netz zurückfallen, weil da gibt es nichts, da gibt es kein Hartz IV, da gibt es keine Tafel, die geordnet irgendwo einsortiert ist, wo du weißt, da kann ich dann zumindest zum Essen hingehen oder in dem Rahmen, wie wir hier ja auch viele Maßnahmen haben. Also was ist eigentlich das, was wir gerade jetzt durch Corona auch erleben? als Kettenreaktion in zum Beispiel Afrika mit auf dem Schirm haben müssen, was wir vielleicht gar nicht so direkt als erste Nachricht mitlesen. Vielleicht

Boris Breyer: ist es ein schwieriger Vergleich, aber es ist eher so, wenn man sich überlegt, wie ich jetzt zum Beispiel als Student gelebt habe, dass man auch nicht irgendwie langfristig geplant hat, sondern immer, naja, von einem Tag auf den anderen, wenn das Geld mal irgendwie knapp war, dann hat man die Eltern angerufen, hat gefragt, ob sie mal irgendwie was nachschießen, aber man hat nicht langfristig geplant, hat irgendwie Geld angelegt, hat sich überlegt, was passiert in zwei Monaten, sondern Die Menschen, es ist wirklich so, dass sie genau von Tag zu Tag, also sie wissen nicht, was sie morgens ihren Kindern wieder zum Essen auf den Tisch stellen können. Und das macht irgendwie dieses, man muss den Versuch starten, sich mal in diese Menschen, in arme Menschen reinzuversetzen, wie die von Tag zu Tag reagieren. Und da ist eben keine langfristige Planung möglich. Und genau da ist zum Beispiel ein Punkt, wo wir irgendwie als Hilfsorganisation ansetzen müssen, dass wir sagen, wir müssen langfristig helfen, wir müssen den Leuten versuchen, Möglichkeiten zu geben, zum Beispiel, dass man sagt, man kauft irgendwie einer armen Familie Schweine, die wiederum irgendwie Ferkel werfen, mit diesen Ferkeln, die können sie verkaufen, die bringen ihnen aber auch gleichzeitig Fleisch, dass man ihnen so eine langfristige Möglichkeit bietet,

Marina Löwe: zu planen. Und wenn wir bei Langfristigkeit jetzt nochmal ansetzen, Julia, auch bei den Dingen, die du genannt hast, zusätzlich zu den Bildungsinitiativen, was fokussiert ihr mit SOS Kinderdörfer noch in Bezug auch gerade auf Frauenförderung?

Julia Selle: Ja, also eine weitere Säule ist eben bei uns auch ganz klar die Aufklärungsarbeit, die Aufklärungsarbeit über die Rechte von Frauen. Damit beginnen wir bei den SOS-Kinderdörfern schon im Kindesalter. Also wir schaffen Aufmerksamkeit, wir sensibilisieren für das Thema. Und dabei ist es natürlich ganz wichtig, dass wir uns nicht nur auf die weibliche Bevölkerung vor Ort konzentrieren, sondern dass wir da eben auch die Männer und die Jungs mit dazu nehmen, damit die ganze Gesellschaft eine Möglichkeit hat, sich zu verändern.

Marina Löwe: Und was klärt ihr da auf zum Beispiel? Also was sind Dinge, die da noch gar nicht so im Bewusstsein verankert sind, die ihr versucht mitzugeben?

Julia Selle: Also viele Dinge sind tatsächlich viele Grundvoraussetzungen, die für uns selbstverständlich sind. Also dass Frauen eben auch Rechte haben. Also wir fangen wirklich bei den Basics an und hoffen so, dass wir eben Frauen dazu verhelfen, eine Ausbildung zu machen, wie ich es vorhin ja schon auch angedeutet habe. Und ja, eben Stück für Stück, Generation für Generation zu einer Gleichberechtigung dann irgendwann auch beitragen können.

Marina Löwe: Was sind so Beispiele von Initiativen? Kannst du uns da mal sagen, was ihr da unter anderem auch konkret vor Ort für Hilfestellung gebt?

Julia Selle: Ja, also ich kann ein Beispiel gerne nennen aus Bangladesch. Also in Bangladesch haben wir zum Beispiel in jedem SOS-Kinderdorf einen sogenannten SOS-Girls-Club. Also das ist eine Institution sozusagen, in dem sich Mädchen aus dem Kinderdorf und aus der Kommune um das Dorf herum treffen und wir sie einfach ganz konkret schulen. Also dazu gehört zum Beispiel ein Selbstverteidigungskurs, dazu gehört die Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls, um auch für sich einzustehen und seine Rechte auch einzufordern. Wir vernetzen die Mädchen untereinander und schulen sie in einer gewissen Rhetorik, um ihnen einfach ein gutes Rüstzeug mitzugeben. Wenn man bedenkt, dass in Bangladesch zwei Drittel der verheirateten Frauen in ihrer Partnerschaft Gewalt erleben und zum Beispiel Bangladesch die höchste Eheschließungsrate bei Mädchen unter 15 weltweit hat, dann sieht man eben, wie wichtig diese Initiativen sind, um aus dem Teufelskreis herauszukommen.

Marina Löwe: Also ein Thema, was ich überhaupt nicht auf dem Schirm hatte, das ist von der, ich weiß nie ganz, wie man sie ausspricht, Caroline Criado-Perez. Sie hat ja das Buch Invisible Women geschrieben. Und da ist mir erst mal klar geworden, dass zum Beispiel sowas Banales wie Sanitäranlagen wirklich auch ganz massiv was mit Sicherheit, mit Gesundheit zu tun hat, besonders für Frauen, weil sie aufgezählt hat, dass gerade in Ländern wie zum Beispiel Indien, da gab es weibliche Polizistinnen, die aber im Dienst nirgendwo die Möglichkeit haben, ihren Notdorf zu verrichten. Wenn du andere Länder nimmst, wie eben auch wieder Südafrika, was ihr gerade schon genannt habt, die müssen teilweise Hunderte von Metern auch nachts zurücklegen oder wenn Feldarbeit da ist, dass sie dann lieber den ganzen Tag nichts trinken, weil es eben keine Möglichkeit gibt, in einem geschützten Raum die Notdurft zu verrichten, dass sie dann eben mit Dehydrierung oder aufgrund der schlechten Hygienesituation sich Infektionen einholen. Also das ist wirklich nochmal ein ganz massiver Nachteil auf Gesundheit sowie auf das Sicherheitsempfinden, also dass viele sexuelle Übergriffe stattfinden, wenn sie nachts eigentlich auf dem Weg zur Toilette sind. Das sind ehrlich gesagt so Sachen, glaube ich, die wir bei uns im Alltag manchmal überhaupt nicht im Blick haben. Man geht in seiner Wohnung ins Bad und denkt nicht drüber nach, dass das ein unglaublicher Luxus ist und dass das eben auch Sicherheit bedeutet und auch die Möglichkeit, seine Gesundheit zu schützen, zum Beispiel beim Arbeiten. Also was sind noch so Dinge, wo ihr sagt, neben der Bildung und der Aufklärungsarbeit, dass es noch Ein großer Hebel, an dem er auch ansetzt. Boris, was muss man da noch im Blick haben, wenn man das aus unserer Bubble heraus vielleicht nicht sieht?

Boris Breyer: Ja, selbstverständlich geht es natürlich auch darum, dass einfachste Dinge, die für uns völlig normal sind, also schon im Kindergarten lernen die Kinder bei uns irgendwie, dass man sich die Hände regelmäßig wäscht, dass man vielleicht irgendwie einmal oder zweimal Happy Birthday to you singen muss, solange man das irgendwie tut. Das ist natürlich auf Kontinenten wie in Afrika oder Asien völlig unvorstellbar. Natürlich sind das Dinge, die wir, die unsere Mitarbeiter tagtäglich, auch jetzt natürlich, ähm, in unsere alltägliche Arbeit mit einbringen. Den Familien und den Kindern zu zeigen, wie kann Hygiene funktionieren? Wie oft muss ich mir die Hände waschen? Wie wichtig ist es, dass ich mein Wasser nicht aus dem nächstgelegenen Rinnsaal trinke? Dass ich Wasser zum Beispiel richtig abkoche? All das sind Fragen, wo wir natürlich auch ansetzen.

Marina Löwe: Ich glaube, ich habe von euch auch so ein Händewasch-Video, Händewaschtanz-Video gesehen von SOS Kinderdörfer und gedacht, ja, das sind Kleinigkeiten, die ja auch zum Thema Bildung gehören. Also was muss ich in Sachen Hygiene berücksichtigen, damit ich gesund bleiben kann? Und ich glaube, Julia, dass wir uns im Vorfeld auch schon mal unterhalten hatten, dass ihr euch überwiegend ja auf drei Säulen aufstellt. Du hast zwei gerade schon genannt, also die Bildung beziehungsweise Ausbildung, aber auch die Aufklärungsarbeit. Du hast mir aber gesagt, dass ihr auch im Bereich Familienstärkung arbeitet. noch einen Fokus setzt. Was muss ich mir darunter vorstellen?

Julia Selle: Genau, also die Familienstärkung ist großer Fokus unserer Arbeit, weil wir eben Familien unterstützen wollen, die vor dem Scheitern stehen, die eben aus Not und aus Überforderung ihre Kinder vernachlässigen und die vielleicht sogar kurz davor stehen, ihre Kinder abzugeben. Also mit unserer Arbeit wollen wir erreichen, dass Kinder bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können. Also wir greifen ein, bevor Eltern überhaupt vor der Entscheidung stehen müssen, ihre Kinder allein zu lassen. Also ganz pragmatisch, wir schützen Kinder, indem wir ihre Familien stabilisieren. Und das kann häufig einfach sein, dass wir ein Nachbarschaftsnetzwerk aufbauen, um eine starke Gemeinschaft zu bieten, weil in starken Gemeinschaften einfach seltener jemand durch ein Raster fällt. Und häufig sind die Teilnehmer unserer Familienstärkungsprogramme eben auch wieder alleinerziehende Mütter oder Witwen, die einfach am Rand der Gesellschaft stehen. Und wir versuchen dann, sie sowohl beruflich zu stärken, also indem wir sie ausbilden oder ihnen bestimmte Fähigkeiten beibringen. Wir bieten ihnen aber auch therapeutischen und pädagogischen Beistand an und im Notfall auch eine vorübergehende Unterkunft. Und mit all diesen Maßnahmen wollen wir Frauen und Familien eine Perspektive geben auf ein unabhängiges und auf ein stabiles Leben. Das Wichtigste, was wir erreichen wollen, ist, dass die Familien sich selbst um ihre Kinder kümmern und dass sie wieder einen Platz in der Gesellschaft finden.

Marina Löwe: Und bei der ganzen Arbeit, die ihr da leistet, Boris, wie messt ihr eigentlich den Erfolg eurer Arbeit? Also woran macht ihr fest, dass es wirkt?

Boris Breyer: Ja, wir haben eine relativ strenge Erfolgskontrolle, das heißt für alle Projekte, die wir weltweit haben. Das heißt, wir fragen ständig, welche Mittel wurden eingesetzt und welche Ziele wollten wir erreichen und wo stehen wir da jetzt? Und im Bedarf muss man natürlich die Maßnahmen dann immer wieder anpassen. Uns ist da extrem wichtig, gerade auch natürlich, weil wir darauf angewiesen sind, dass die Menschen ja sagen, wir spenden für die SOS-Kinderdörfer in unserer Arbeit, dass da ein höchstes Maß an Transparenz hergestellt ist. Und deswegen haben wir zum Beispiel einen sogenannten Impact Report, also einen Wirkungsbericht. Den kann jeder einsehen und der belegt, wie unsere Arbeit wirkt. Und tatsächlich ist es so, dass man daraus rauslesen kann, dass eigentlich aus den allermeisten unserer Jugendlichen wirklich, wenn man das so sagen kann, was geworden ist. Wir begleiten ganz viele Kinder, im Schnitt zum Beispiel 17 Jahre lang in einem Kinderdorf. Und da kann ich wirklich sagen, dass die betreuten Kinder, die uns verlassen, in den fast allermeisten Fällen zu unabhängigen, gebildeten und vor allem motivierten Personen herangewachsen sind. Und das ist ja auch irgendwie unser Ziel, dass diese Kinder später mal, das ist dieser Aspekt der Langfristigkeit, zu aktiven Mitgliedern in der Community werden und der Gesellschaft wieder etwas zurückgeben. Und das können wir anhand von Zahlen immer wieder gut belegen.

Marina Löwe: Von dem, was du beschrieben hast, nehme ich zumindest mit, dass jeder Euro, der an euch gespendet wird, definitiv sich vermehrt. Allein dadurch, dass ich nicht nur die Armut vor Ort reduziere, sondern auch über die erhöhten Bildungschancen sogar dafür Rahmenbedingungen schaffe, dass Geld generiert wird. an den Stellen, wo normalerweise Geld weiterhin empfangen werden müsste. Also damit kann es ja eigentlich nur eine mehrfache Win-Win-Situation sein, sodass wir auf mehreren Ebenen einfach da wirklich nachhaltigen Impact haben. Was mich zum Abschluss von unserem Podcast auf jeden Fall für die Hörerinnen und Hörer noch extrem interessiert ist, was können diejenigen, die zum Beispiel auch jetzt ganz konkret tun? Also wenn ich unterstützen möchte und sage, boah, das hat mich berührt, ich möchte dazu beitragen, dass wir da weltweit die Lücke zwischen Arm und Reich nicht noch weiter auseinanderreißen lassen, dass wir über die Versorgung mit Bildung weltweit einfach auch ein gesellschaftliches Stabilisierungsprinzip ja in Gang halten. Also wie kann ich konkret unterstützen, Julia? Ja, vorweggeschickt.

Julia Selle: Also wir sind als SOS Kinderdörfer auf Spenden angewiesen. Wir finanzieren die Projekte in 137 Ländern durch unsere großartigen Unterstützer. Und da ist natürlich jeder Euro sozusagen willkommen. Man kann das einmal mit der klassischen Spende tun, in der man ein spezielles Projekt oder ein Land unterstützt oder in der man eben Projekt ungebunden spendet und die SOS Kinderdörfer das Geld dann dort einsetzen können, wo es am nötigsten gebraucht wird. Dann haben wir jetzt relativ neu einen Geschenkeshop online gestellt. Also ich denke, wir alle kennen irgendwie das Gefühl, es hat jemand Geburtstag, aber irgendwie haben wir alles. Also was schenken wir? Warum nicht mal ein Geschenk, was anderen hilft? Also zum Beispiel ein Moskitonetz, eine Wasserpumpe, einen Kita-Platz. Oder sogar eine Milchkuh oder eine Ziege als Geschenk für Freunde auswählen online und dann den Beschenkten eben mit einer individualisierten Karte über unsere Plattform zu beglücken und so ein Geburtstagsgeschenk zum Beispiel zu finden, was allen hilft. Dann gibt es auch die Möglichkeit bei Anlässen, also zum Beispiel bei Jubiläen, bei Festen oder bei einer sportlichen Aktivität wie zum Beispiel Marathonlaufen. Geld einzusammeln. und dafür haben wir eine sogenannte Anlassseite kreiert, eine eigene Website www.meine-spendenaktion.de und dort kann eben jeder seine eigene private Aktion anlegen und den Link dann mit Freunden und Familie teilen und online eben bitten, die Spendenaktion zu unterstützen. Wichtiges Fundament unserer Finanzierung ist dann eben noch das Feld der regelmäßigen Spenden. Und hier ist vor allen Dingen die Patenschaft zu nennen für ein einzelnes Kind oder zum Beispiel für ein Kinderdorf. Und da haben wir auch den Chancengeber oder den Krisenhelfer ins Leben gerufen. Das ist also eine monatliche Spende, die speziell das Thema Bildung oder jetzt eben ganz aktuell die Corona-Krise in den Fokus nehmen. Das war jetzt so die Privatspenderseite, aber man kann natürlich auch als Unternehmen sich für die SOS-Kinderdörfer engagieren. Das ist auch der Bereich, in dem ich hauptsächlich tätig bin. Hier kann man natürlich auch zum einen sehr gerne klassisch spenden, aber es geht immer häufiger um echte Partnerschaften, also um Partnerschaften auf Augenhöhe, wo wir eben gemeinsam mit den Unternehmensvertretern CSR-Kooperationen entwickeln, die dann am Ende für alle Beteiligten einfach einen Mehrwert bieten.

Marina Löwe: Das klingt großartig und das sind ja eine Menge Hebel. Das heißt, wer auch immer uns gerade zuhört, kann sich zum einen überlegen, wie kann ich das bei uns im Unternehmen entweder initiieren, wenn wir noch nicht kooperieren mit SOS Kinderdörfer oder wenn wir es schon tun, nochmal Aufmerksamkeit erhöhen innerhalb unseres Unternehmens. Und danke Julia, dass du auch das mit der Geschenkidee teilst. Ich weiß, dass wir in unserem Netzwerk das ja auch Weihnachten hatten und das hat uns sehr geholfen, weil wir auch innerhalb der Familie gesagt haben, also wir brauchen nur echt nichts mehr und uns da nicht irgendwas schenken, was weit hergesucht ist und eigentlich keinen großen Mehrwert schafft, aber es gibt andere Stellen, wo es gerade viel, viel mehr gebraucht wird und wo man dann doch als, wenn ich jetzt irgendwann mal außerhalb von Corona zur Geburtstagsfeier gehen darf oder auch jetzt währenddessen jemandem eine Freude machen will, dann finde ich das großartig. wenn man eben in diesem Bereich sagt, wisst ihr was, anstatt mir irgendwie was zu schenken oder zu schicken, tut mir doch einen Gefallen und ermöglicht einer Familie zum Beispiel, dass sie mit einer Ziege oder Kuh oder Moskitonetzen irgendwie versorgt werden. Das finde ich eine ganz, ganz großartige Idee. Boris, magst du noch von deiner Seite aus sagen, was wünschst du dir für dieses Jahr, wo wir ja das zweite Jahr in die Corona-Krise gehen? Was wäre dein Wunsch für SOS Kinderdörfer?

Boris Breyer: Also ich muss dazu sagen, dass es schon jetzt in der ersten Phase total erstaunlich war, wie viel Solidarität und Mut die Menschen in Deutschland aufgebracht haben, obwohl ja ganz, ganz viele zum Beispiel auch bedroht sind, dass sie ihren Job verlieren, in Kurzarbeit sind, nicht wissen, wie es im nächsten Jahr irgendwie weitergeht. Und trotz alledem haben wir eine Solidarität und Bereitschaft zu helfen erfahren wie in kaum einem Jahr zuvor. Und ich würde mir wünschen, dass dieses Mitgefühl und diese Menschlichkeit, die uns wiederum helfen, Millionen Kinder durch diese Krise zu begleiten, auch weiter erhalten bleibt. Und dass alle verstehen, dass wir gerade jetzt zusammenstehen müssen und die, denen es noch deutlich schlechter geht als vielen Menschen hier, nicht im Stich lassen dürfen.

Marina Löwe: Vielen Dank, Boris, für diese Worte und auch Julia, dir nochmal ganz herzlichen Dank, dass du das auch in unserem Netzwerk immer wieder in den Fokus rückst, darauf aufmerksam macht, dass ihr für so ein so wichtiges Thema unterwegs seid. Als ich Anfang des Jahres mal geguckt habe, was die Google-Trends waren, das bestätigt, was du sagst, Boris, es wurde noch in keinem Jahr so oft gegoogelt, wie kann ich spenden und zwar häufiger als wie kann ich Geld sparen. how can I be an ally, also wie kann ich Unterstützer sein, anstatt how can I be an Influencer, wie kann ich in den Social Media mich toller darstellen. Und das, finde ich, ist ein schöner Trend aus dem letzten Jahr, der zeigt, dass Menschen eben in der Krise auch durchaus zur Solidarität und Kooperation in der Lage sind. Und ich freue mich sehr, wenn sich das dieses Jahr fortsetzt, auch bei euch, die uns gerade zuhören. Ganz herzlichen Dank für die ganzen Infos, die ihr heute geteilt habt mit uns.

Julia Selle: Vielen Dank an dich, Marina. Ja.

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