Raul Krauthausen: Wie barrierefrei ist unsere Arbeitswelt wirklich?
23. April 2024, mit Joel Kaczmarek, Lunia Hara
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Joel Kaczmarek: Hallo Leute, mein Name ist Joel Kaczmarek. Ich bin der Geschäftsführer von digital kompakt und heute habe ich endlich mal wieder die liebe Lunja Hara an meiner Seite. Wenn Lunja da ist, die ist ja Projektmanagerin bei Diconium, dann geht es darum, wie können wir eigentlich empathischer führen. Das heißt, wir versuchen eigentlich immer für Vielfalt den Blick zu weiten und den Menschen mitzugeben, was da eigentlich alles so dahinter steckt und vielleicht auch mal hier und da zu entmystifizieren und vor allem auch so die Dämonisierung wegzunehmen. So und heute haben wir uns ein besonderes Thema ausgesucht. Wir möchten nämlich darüber sprechen, wie barrierefrei ist denn eigentlich unsere Arbeitswelt? Also vor allem auch die Digitale in den ganzen Startups, weil da gibt es ja irgendwie riesige Dinge, die zu tun sind. Ich kann euch eine Sache verraten. Unser Gast, den wir uns dazu eingeladen haben, den lieben Raul Krauthausen, den hatten wir schon mal zu Gast. Und zwar mit der Anja zusammen, wo wir immer über Mobility reden. Und ich kann euch sagen, ich verlinke das am besten mal in den Shownotes, das war das Highlight für mich schlechthin, diesen Podcast zu haben, weil ich so viel gelernt habe und so viel Perspektiverweiterung hatte, was ich relativ selten in der Intensität habe, dass ich es mit Lunia gesagt habe, okay, das müssen wir wiederholen. Weil der liebe Raul, der ist Aktivist und setzt sich genau für dieses Thema ein, klärt dazu auf. Er hat einen tollen Newsletter, den ich immer empfange. Er hat mehrere Bücher schon geschrieben. Dazu erzählt er bestimmt gleich auch noch ein bisschen mehr. Und wir wollen heute halt mal verstehen, wie sieht das denn eigentlich aus? Also wir wollen mal den Perspektivwechsel machen. Wie barrierefrei ist denn unsere Arbeitswelt wirklich? Wie fühlt sich das aus der anderen Warte an? Was gibt es noch zu tun? Also es gibt zig Themen, deswegen halte ich mich nicht länger mit der Vorrede auf. Schön, dass ihr da seid, ihr beiden. Moin Moin.
Raul Krauthausen: Moin.
Lunia Hara: Hallo Raul. Hallo Joel.
Joel Kaczmarek: Erzähl doch mal ein, zwei Sätze zu dir, Raul. Wie bist du aktiv? Wie engagierst du dich für Menschen, die dich noch nicht kennen?
Raul Krauthausen: Ja, ich habe Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert an der Universität der Künste. Habe dann jahrelang in Werbeagenturen gearbeitet als Projektleiter. Dann später vier Jahre beim Radio als Programmmanager. Habe mich dann selbstständig gemacht bzw. habe eine Organisation gegründet, die sich Sozialhelden nennt. Das ist eine gemeinnützige Organisation, die sich seit fast 20 Jahren für die Rechte von behinderten Menschen einsetzt. Ja, wir arbeiten mit modernen Methoden. Wir arbeiten vor allem mit Kommunikationsmaßnahmen. Wir zeichnen uns selber als Aktivisten. für Inklusion und Barrierefreiheit und können inzwischen auch davon leben. Also wir bei den Sozialhändlern haben uns irgendwann gesagt, wir wollen an unserer eigenen Arbeitslosigkeit arbeiten. Also dass es eigentlich darum geht, dass man uns vielleicht später nicht mehr braucht. Das ist natürlich ein bisschen naiv, weil da noch eine Menge Holz zu hacken ist natürlich. Aber ich bin sehr dankbar, dass ich meine Erfahrungen auch in der Werbewelt machen konnte. beim Radio machen konnte. Ich muss auch ehrlich sagen, es hat mir auch sehr, sehr viel Spaß gemacht. Und was ich nie werden wollte, ist eigentlich dieser Berufsbehinderte. Also der, der jetzt quasi mit dem Thema Vielfalt und Behinderung und Inklusion irgendwie seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Ist es jetzt aber irgendwie doch geworden. Ich versuche wieder, sagen wir mal, die andere Zeit meines Lebens mit anderen Dingen zu tun. Zum Beispiel habe ich jetzt gerade ganz aktuell ein Kinderbuch rausgebracht, als Ela das All eroberte, zusammen mit meiner Kollegin Adina Herrmann, wo wir mal ein Kinderbuch geschrieben haben zum Thema Behinderung, das wir selber als Kinder gerne gelesen hätten. Und möglichst frei ist von Klischees, Annahmen, Leid, Mobbing, Einsamkeit, sondern einfach von zwei Freundinnen handelt, die gemeinsam ein Abenteuer erleben wollen.
Joel Kaczmarek: Bei unserem ersten Treffen im Podcast, bei der anderen Folge, von der ich erzählt habe, weiß ich noch, ich habe dich gefragt, wie spricht man eigentlich da korrekt drüber? Weil bei solchen Themen gibt es ja oft auch so Berührungsängste oder Angst, was Falsches zu machen und mir ist ja echt hängen geblieben, wie du meintest, so Ja, nein, man sagt irgendwie Menschen mit Behinderung und zum Beispiel Nichtbehinderte, weil ich sage ja zu dir auch nicht Glatzkopf. Du bist ein Mensch mit Glatze, aber du bist halt ein Mensch. Das ist mir irgendwie hingeblieben. Wie ist denn generell so der Zugang, den du dir wünschst zu dem Thema, wenn man darüber redet, über Barrierefreiheit und Inklusion?
Raul Krauthausen: Wir beraten ja viele Medien, wenn sie dann eben auch vor der Frage stehen, wie spreche ich darüber, wie schreibe ich darüber. Und da ist es erstmal, glaube ich, ein guter Hinweis zu sagen, man sollte die Behinderung betrachten wie eine Haarfarbe. Also sie ist jetzt nicht immer präsent im Leben eines behinderten Menschen. Aber es gibt natürlich Situationen, wo eine A-Farbe oder eben eine Behinderung auch mal nerven kann. Es ist nicht so, dass wenn ich aus mir herausblicke, ich die ganze Zeit darüber nachdenke, dass ich im Rollstuhl sitze und ich gehe auch nicht weinend ins Bett und ich bin auch nicht traurig, wenn ich aufwache, sondern es ist ja mein Leben, ich kenne das ja nicht anders. Und ich vermisse nichts. Es kann aber eben immer wieder Situationen geben, in denen die Behinderung mich einschränkt oder eben vor allem die Barrieren im Alltag mich einschränken. Deswegen empfehle ich immer die Formulierung behinderter Mensch oder Mensch mit Behinderung, wobei behinderter Mensch sogar ein bisschen besser ist, weil es noch offen lässt, ob ich behindert bin oder eben durch fehlende Barrierefreiheit behindert werde. Das ist immer ein Wechselspiel aus meiner eigenen Eigenschaft als Mensch mit Behinderung und der Umwelt. Aber wenn wir jetzt zum Beispiel in diesem Podcast sitzen und aufzeichnen und wir alle wahrscheinlich auf Stühlen sitzen, ist es egal, ob mein Stuhl ein Rollstuhl ist oder euer Stuhl ein Bürostuhl.
Joel Kaczmarek: Ja, und ich meine, es hat ja auch wirklich Impact. Also ich habe vor kurzem, das war so vor drei, vier Wochen, glaube ich, habe ich mit jemandem gesprochen und der hat eine ziemlich hohe Position in einem ziemlich, ziemlich, ziemlich großen Unternehmen. Und der sagte dann zu mir, ja, bei uns wurde jetzt gerade der Begriff All Hands Meeting abgeschafft. Also sagt man ja zu einem Meeting, wo irgendwie alle Mitarbeitenden zusammenkommen und in der Regel fragt der CEO dann irgendwie Dinge. Ja, weil ja nicht alle Menschen Hände haben oder nicht alle zwei Hände haben. So, und das die Leute halt irgendwie einschränkt. Und ich habe so die Erfahrung gemacht, der Betroffene, der mir das erzählt hat, hat gesagt, er findet das irgendwie total drüber. Und auch alle anderen Menschen, die ich davon erzählt habe, haben erzählt, das finde ich irgendwie viel zu Matsch. Wo hängt das an? Wo hört das auf? Das ist ja so dieses ewige Kampf, den man bei diesen Thematiken irgendwie hat. Vielleicht kannst du uns ja mal so eine Orientierung geben, weil Mir persönlich ist immer schon wichtig, dass man Leute irgendwie mit denen auf eine Art umgeht, wo die sich wohlfühlen und wie sie sich in ihrer Vollständigkeit berücksichtigt fühlen. Und dann gibt es halt dieses andere Extrem, dass Menschen ja oftmals so das Gefühl haben, ihnen wird was weggenommen oder es ist kleinlich und da haben wir nicht andere Probleme.
Raul Krauthausen: Ja, ich verstehe, was du meinst. Ich kann da natürlich jetzt auch keine Absolution erteilen. Ich würde dann wahrscheinlich mich leichter abgeholt fühlen, wenn man mir gleich eine Alternative vorschlägt. Also All-Together-Meeting würde es ja vielleicht auch tun und ist vielleicht sogar besser, weil es mehr sagt als All-Hands. Manchmal sind die Alternativen auch wirklich besser. Aber was ich jetzt eigentlich versuche zu vermeiden ist, also manchmal vermeiden wir Themen und benutzen dann Euphemismen. Dann wird halt sowas gesagt wie Handicap oder andersbegabt oder Special Need, um bloß nicht das Wort Behinderung zu sagen. Aber da, wo Special Needs sind, da gibt es dann auch ganz schnell Special Institutions und so, dass das dann auch wieder ein Problem sein kann, wenn man Dinge, sagen wir mal, nicht benennt. Also deswegen, eine Sprache ist mächtig und komplex und nicht jede Verbesserung ist eine Verbesserung. Aber ich denke, es ist wichtig, darüber nachzudenken und zu reflektieren und sich auch auszutauschen. Also ich habe zum Beispiel zuletzt die Erfahrung gemacht, wenn es heißt irgendwie Blinder Fleck. Also ich habe da einen blinden Fleck oder wir sind auf dem rechten Auge blind. Das sind ja so Floskeln, die man sagt. Und ich merke, dass es ableistische Sprache ist. Und dazu musste ich aber auch selber erst gestoßen werden von unseren Kolleginnen, die eine Sehbehinderung haben. Und dann kann man auch sagen, ja, wir haben die Stelle nicht ausreichend beleuchtet. Und da gehe ich dann mit und bin dann auch oft dankbar für die Erfahrung. Das, was du beschreibst, Joel, ist vielleicht so auch diese Angst, dafür dann in eine Ecke gestellt zu werden, als weißer Cis-Dude ohne Behinderung irgendwie sich beigert, Feedback aufzunehmen. Und ich denke, wir sollten den Menschen auch mehr Fehlertoleranz zugestehen. Es geht nicht immer darum, alles sofort richtig zu machen. Aber sobald du signalisierst, dass du lernbereit bist, ist das Klima und das Umfeld ja oft auch ein anderes.
Lunia Hara: Auch mir passieren ja ähnlich wie dir, dass ich halt sage, Ich kenne mich nicht mit allen Diversitätsdimensionen aus. Und es ist normal, dass ich dann halt irgendein Fehler mache. Ich muss da auch drauf gestoßen werden. Das, was mir bei vielen in diesen ganzen Diskussionen fehlt, ist einfach diese Bereitschaft, lernen zu wollen und zu verstehen. Das, was man eigentlich abverlangt, ist gar nicht so viel. Es wird mehr darüber diskutiert, als eigentlich, was diese Änderung erfordert. Und da geht es letztendlich aus meiner Sicht auch viel um Deutungshoheit. wer hat die Macht zu sagen, was richtig ist und was nicht und gar nicht um die Sache an sich.
Raul Krauthausen: Und ich finde halt gerade so krass, also jetzt in Bayern, das Genderverbot, wo man einfach denkt, okay, Markus Söder behauptet die ganze Zeit, Sprache wird verboten von den Linken, von den Woken. Und was macht er? Er macht selber diesen Arschloch-Move. Und man denkt so, merkst du es eigentlich selber noch? Das ist dieses trotzige Kleinkind in Markus Söder, das einfach partout nichts ändern will.
Lunia Hara: Also eigentlich ist es schon auch eine Machtfrage, weil einige meinen, sie hätten mehr Recht zu bestimmen, weil sie glauben, vielleicht in der Mehrheit zu sein, was eigentlich auch totaler Quatsch ist, weil aus meiner Sicht gibt es diese Mehrheit gar nicht, wenn es um Menschen geht.
Joel Kaczmarek: Wenn wir langsam mal zur Arbeitswelt kommen, hast du eigentlich Zahlen, von wie vielen Menschen wir reden, die eine Behinderung haben und am Arbeitsmarkt verfügbar sind?
Raul Krauthausen: Also ich habe da zu einzelnen Sachen Zahlen. Es gibt irgendwie 10% der Bürger haben eine Behinderung. Unternehmen ab 20 MitarbeiterInnen müssen 5% ihrer Belegschaft mit Behinderung besetzen. Sonst müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen. Und es gibt eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit von Menschen mit gleichem akademischen Grad im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen. Und natürlich sind die meisten Menschen mit Behinderung alt. Das heißt, wenn wir sagen, 8 Millionen behinderte Menschen leben in Deutschland, sind die meisten wahrscheinlich im Rentenalter. Aber die, die übrig bleiben, die sind dann oft vom Arbeitsmarkt nicht gesehen. Viele von denen können arbeiten und wir müssen die Frage stellen, was gilt als behindert? Also du kannst ja auch schon eine Behinderung haben, wenn du zum Beispiel eine Krebserkrankung hast oder wenn du eine Nussallergie hast. Du musst dich jetzt nicht unbedingt einschränken.
Joel Kaczmarek: Warum sagst du, natürlich sind die alt?
Raul Krauthausen: Durch den demografischen Wandel haben wir immer mehr die Situation, dass Menschen immer älter werden und durch die bessere medizinische Versorgung älter werden und auch mit Behinderung älter werden, die also nicht mehr auf biologischen Wegen so schnell abtreten. Es gibt zum Beispiel gerade sehr viele Menschen mit Behinderung, die ihre Eltern überleben, was einfach vor 40 Jahren noch nicht so der Fall war. Dann haben wir natürlich auch die Situation, das wird auch oft unterschätzt, dass Menschen mit Behinderungen die am schnellsten wachsende Minderheit sind. Also wenn wir mal nicht über den Arbeitsmarkt reden, sondern über Konsum, dann haben wir einfach auch ein riesiges Potenzial an Kundinnen und Kunden, wenn wir behinderte Menschen ernst nehmen würden. Allein im Tourismus ist es ein Milliardenmarkt, der barrierefreie Tourismus. Weil alte Menschen gerne reisen im Vergleich zu jungen, die vielleicht oft das Geld noch nicht haben.
Joel Kaczmarek: Ich erinnere mich, unser Gespräch, was wir damals zum Thema Mobility hatten, war ein ziemlicher Offenbarungseid. Also wir hatten damals darüber gesprochen, dass es Fluglinien gibt, die Menschen mit Behinderung dazu nötigen, dass die mit Windeln im Flieger sitzen. Wir haben darüber geredet, dass es einen Großteil Berliner S-Bahnhöfe gibt, wo du keinen Fahrstuhl hast. Das heißt, wenn du irgendwie von A nach B kommen willst, musst du teilweise kilometerweit über die Straße fahren. Wir haben über die problematische Situation in Bussen geredet, dass es kaum Taxis dafür gibt und und und. Deswegen sage ich, das war so eine lernende Folge, weil es so erschreckend war. Wie erlebst du denn so die Arbeitswelt heutzutage, sage ich mal im Durchschnitt? Da müssen wir glaube ich viele verschiedene Themen aufmachen, aber wenn wir mal jetzt so an die Digitalwirtschaft denken, an eher Bürojobs, an Arbeitsumfelder, wie ist es da in Sachen Barrierefreiheit?
Raul Krauthausen: Du hast recht, das ist ein bisschen komplex. Wahrscheinlich auch mehr, als in diese Podcast-Folge hier reinpasst, weil es ja auch verschiedene Welten gibt. Es gibt einmal die arbeitgebenden Welt, da dann quasi die Frage zu stellen, was wird eigentlich gesucht, was wird gebraucht. Wenn wir jetzt den IT-Sektor nehmen, dann sind das ja oft irgendwie, keine Ahnung, Kommunikatorinnen, ProgrammiererInnen, gerade in Startups, sind wahrscheinlich sogar aktiv, was Diversität angeht. Also dass sie irgendwie sagen, okay, unsere Server müssen mit CO2-neutralen Strom betrieben werden, dass sie einmal eine gewisse Awareness schon für bestimmte Themen haben und dann eben auch auf Vielfalt achten. Aber wenn du dann zum Beispiel in eine Anzeige schaltest und du sagst, wir suchen eine Programmiererin mit Behinderung, dann passiert es sehr häufig, dass dann Unternehmen uns erzählen, dass sich niemand beworben hat. Und das kann verschiedene Gründe haben. Also es kann einmal den Grund haben, dass die Anzeige vielleicht selber nicht barrierefrei war. Also wenn ich blind bin und ich kann das PDF aber nicht benutzen oder öffnen oder hochladen oder signieren, was ja alles inzwischen digital läuft, dann bin ich halt raus. Und es gab auch keine Möglichkeit, es euch zu sagen, weil es gibt kein Kontaktformular, das barrierefrei ist und so weiter. Und dann kriegt man das oft auch gar nicht mehr mit. Oder aber, und das gibt es auch, so viel gehört zur Wahrheit dazu, behinderte Menschen wurden in dem Bereich auch gar nicht ausgebildet. Also wenn die Hochschule nicht barrierefrei war, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Person es auch nicht gelernt hat. Das Thema kann sehr schnell sehr komplex werden. Da muss man dann genau schauen, wo hat man zum Beispiel gesucht. Es gibt Datenbanken, es gibt extra Jobplattformen für dieses Thema. oder aber man muss dann ein spezifisches Headhunting machen, so wie man das ja dann auch bei Top-Talenten machen würde.
Lunia Hara: Man sagt ja, dass eigentlich egal, was man für welche Diversity-Dimension macht, dass am Ende profitieren alle davon. Und das ist das, was mir fehlt, dass halt diese Vorteile wenig beleuchtet werden oder nie darüber diskutiert. Es wird immer darüber diskutiert, warum etwas nicht geht, wo man schon entgegengekommen ist. Wenn wir mehr darüber diskutieren würden, was sind eigentlich die gesellschaftlichen Vorteile, Wenn wir bestimmte Dinge tun, ich glaube, dann würden wir vielleicht auch viel mehr dafür einsetzen, weil wir dann erkennen, auch ich habe etwas davon. Wenn beispielsweise Wohnungen in Zukunft von vornherein barrierefrei gebaut werden, dass ich dann im Alter gar nicht mehr aus meiner Wohnung raus muss, wenn ich vielleicht auf dem Rollstuhl angewiesen bin oder wenn ich einen Unfall habe, dass ich an meinem Wohnort bleiben kann und nicht sofort eine neue Wohnung suchen muss, weil ich da gar nicht mehr die Treppen hochkomme.
Raul Krauthausen: Ich bin da so ein bisschen im Zwiegespalten, wenn ich ehrlich bin. Weil wenn man diese Logik weiterdenkt, dann kann das ja quasi dazu führen, dass man nur dann Vielfalt macht im Unternehmen, wenn es auch was bringt. Und ich denke, Menschen mit Vielfaltsmerkmalen haben auch ein Recht darauf, normal zu sein. Also normal durchschnittlich gut, normal durchschnittlich schlecht. Und ich möchte nicht quasi nur dann in einer Firma gewollt sein, wenn ich irgendwie allen anderen ein gutes Gefühl gebe. Ich möchte auch dann gewollt sein oder gebraucht mich fühlen, wenn ich einfach meinen Job mache. Und wir, glaube ich, in dieser Diversity-Community, in der wir uns ja auch viel mit diesen Themen beschäftigen, keinen Gefallen tun, wenn wir immer von Vorteilen für alle sprechen. Es gibt trotzdem ja auch Konflikte und Auseinandersetzungen mit verschiedenen Erfahrungswelten, die dann plötzlich aufeinanderprallen. Also es gibt dann Reibung, es gibt dann Dinge, die erstmal gelernt werden müssen von der Struktur und von der Organisation, von den Kolleginnen vor allem. Wie sage ich denn jetzt? Kann ich jemandem ohne Arme die Hand geben? Das ist ja erstmal Unsicherheit auch in einem Unternehmen am Anfang. Diese Schwelle muss man überschreiten, bevor es vielleicht zu dieser Vielfalt für alle positiven Effekt kommt. Und da glaube ich, geben halt viele schon auf davor. Aber sagen, es ist so anstrengend, macht so viel Arbeit und so. Es gibt erstmal auch eine Auseinandersetzung mit meinen eigenen Vorurteilen, mit meinen eigenen Ängsten. Und wenn ich vielleicht zu Hause gerade aber super viel zu tun habe, dann habe ich dafür auf der Arbeit nicht auch noch Kapazitäten. Ich will das nicht schönreden, ich will einfach nur sagen, dass wir da auch manchmal auf Widerstände stoßen, wo wir die Leute nicht abholen, wenn wir sagen, aber du wächst daran.
Joel Kaczmarek: Wie ist es denn generell? Du hast ja einen schönen Buchtitel auch, der da lautet, Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Die Frage liegt ja nahe, wie viel Zugang zu Berufsbildern habe ich denn heutzutage, wenn ich irgendwie mit einer Behinderung unterwegs bin, wenn ich Mensch mit Behinderung bin? Also beim Dachdecker und im Rollstuhl ist es jetzt relativ plain vanilla, würde ich mal sagen. Aber das ist ja hoffentlich nicht überall so, sondern hoffentlich an möglichst wenigen Stellen. Das heißt, wie ist denn so das Big Picture? Ist es so verheerend wie in der Mobilitätsbranche oder deutlich besser?
Raul Krauthausen: Also Menschen mit Behinderung werden in Deutschland ja systematisch aussortiert in Sondereinrichtungen, Förderschulen, Behinderteneinrichtungen, Berufsbildungswerken, Behindertenwerkstätten und so. Und je länger man in diesen Sonderwelten ist, desto schwerer ist es da wieder rauszukommen, weil man einfach auch bestimmte Dinge nicht gelernt hat dann. Wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Nichtbehinderten, Argumente zu führen. Und man kriegt in diesen Einrichtungen auch oft beigebracht, dass die Welt da draußen böse ist und gefährlich. Und man dankbar sein soll, dass man doch hier jetzt Unterschlupf gefunden hat. Es ist relativ wenig, sagen wir mal, Ansporn entwickelt wird, es draußen außerhalb der Werkstatt mal zu versuchen. Und wenn ich jetzt von der Schule komme Und ich möchte eine Ausbildung starten und ich brauche vielleicht Unterstützung in Form von Assistenz oder Umbaumaßnahmen. Dann sind oft Arbeitsagenturen ja die ersten AnsprechpartnerInnen. Die haben dann oft auch gar nicht gelernt, was alles möglich ist und empfehlen eigentlich fast jedem Menschen, der im Rollstuhl sitzt, den Beruf der Bürokauffrau oder des Bürokaufmanns. Das ist halt, wenn du aber, keine Ahnung, lieber Tierärztin werden möchtest, nicht hilfreich. Ich weiß nicht, wie viele Ausbildungen du schon gemacht hast hinter dir, aber ich kenne dich aus verschiedenen Kontexten. Das heißt, du hast eine Menge ausprobiert, du hast Design Thinking gemacht und so weiter, wo dann einem Menschen mit Behinderung schnell gesagt werden würde, ja, was sollen wir dir denn noch alles finanzieren? Aber du konntest es einfach machen. Und da werden behinderten Menschen auch oft die Chancen genommen, sich auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln. Und bei meiner Erwerbsbiografie war es so, ich habe studiert, ich hatte das Glück, dass die Universität barrierefrei war, einigermaßen, aber der U-Bahnhof nicht. Das heißt, ich bin immer super umständlich zur Uni gekommen. Ich wollte ein Auslandssemester machen. Und dann sagte man mir im Studierendenbüro, dass das nicht geht, wegen meiner Behinderung. Und dann habe ich gefragt, warum? Und dann meinten die, ja, weil das keine Versicherung bezahlen würde. Und ich habe das geglaubt. Nach meinem Studium habe ich dann erfahren, dass Freundinnen von mir mit komplexeren Behinderungen als meiner in Ghana waren und da irgendwie ein Auslandssemester gemacht haben, wo niemand nach der Versicherung gefragt hat. Das heißt, ich habe auch selber viel zu früh aufgegeben und mir wurde quasi durch eine Ansage, das würde keine Versicherung machen, so viel Angst gemacht, dass ich jetzt auch noch nicht mal hinterfragt habe.
Lunia Hara: Kann es sein, dass Behindertenwerkstätten das befördern, dass behinderte Menschen manche Ausbildungen nicht ermöglicht werden oder schwerer ermöglicht werden, weil man eh davon ausgeht, die kommen eh nicht auf den Arbeitsmarkt, so auf dem Normalen.
Raul Krauthausen: Und sie verdienen ja auch sehr wenig. Die verdienen ja weniger als den Mindestlohn in diesen Werkstätten. Und Werkstätten sind nur dann, sagen wir mal, finanziert bzw. sie sind nur dann wirtschaftlich, wenn sie ausgelastet sind. Das heißt, sie müssen die Beschäftigten haben und sie müssen Auftragslage haben und das zu einem günstigen Preis produzieren können. Und wenn das Geschäftsmodell entsteht, dann ist es super wirtschaftlich. Wenn Sie aber jetzt sagen würden, unser Kriterium ist, wir vermitteln viele Beschäftigte in den allgemeinen Arbeitsmarkt, dann würden ja quasi Ihre potenten MitarbeiterInnen verlieren. Und zwar regelmäßig. Und dann funktioniert dieses Anreizmodell gar nicht mehr. Deswegen passiert auch so wenig Vermittlung. Also oft ist es so ein Promille. Wenn du Glück hast, ein Prozent. Das ist niemals ausreichend, wenn Unternehmen mindestens fünf Prozent ihrer Belegschaft mit Menschen mit Behinderung ausstatten müssen. Ab 20 MitarbeiterInnen. Dann entscheidet es da, irgendeinen großen Gap zu geben. Viele Startups wissen das zum Beispiel gar nicht. Die produzieren dann ihr Müsli oder ihre Schokolade oder ihren Kaffee in irgendwelchen Werkstätten. Und denen wurde dann gesagt, ja, das ist gut, ihr habt ja auch soziales Engagement und so. Und guck mal, Menschen mit Behinderung werden hier toll beschäftigt und die haben eine Aufgabe. Die Startups wissen dann eben oft gar nicht, dass da weniger als der Mindestlohn gezahlt wird. Und die richtig Akkordarbeit machen, teilweise bis zu acht Stunden am Tag, schon, ich würde jetzt mal sagen, eine gewisse Ausbeutung auch stattfindet.
Joel Kaczmarek: Ehrlich
Raul Krauthausen: gesagt
Joel Kaczmarek: spiegelt mir nochmal insgesamt den Wert von so etwas, weil ich habe immer so den Eindruck, also in meiner Wahrnehmung wirkt das immer wie so ein Auffangbecken, so nach dem Motto, ja guck mal ist doch super, da können die noch ein bisschen was erarbeiten, irgendwie wird dann immer getöpfert, habe ich den Eindruck und können sich doch glücklich schätzen, weil was ist denn die Alternative? und ich verstehe das gar nicht, also warum soll denn jemand der irgendwie mit Einschränkungen zu tun hat, nicht in der Lage sein, ein Berufsbild genauso zu machen wie jeder andere. Ich fände jetzt irgendwie schade, wenn es wirklich eigentlich eher was Negatives ist, weil es ist ja genau, wie du sagst. Sonst hatte man immer so den Touch, es hat was Soziales und klar, die Erwartungshaltung ist ein bisschen niedriger, aber so. Weißt du, was ich meine? Ich finde es von außen relativ schwer zu verorten, wie so eine Institution einzuschätzen ist.
Raul Krauthausen: Das ist auch gar nicht so leicht. Und die haben auch alle sehr gutes Marketing. Und die Leute, mit denen man zu tun hat, sind dann meistens nichtbehinderte Menschen. Also wenn du mit deinem Startup jetzt sagst, wir haben hier Kaffee, wir würden ihn gerne verpacken, konvektionieren lassen. Die AnsprechpartnerInnen von der Werkstatt, die du dann hast, sind immer nichtbehinderte. Die verkaufen dir dann natürlich alles. Und die sind dann auch gut da drin, das Tolle ihrer Arbeit hervorzuheben. Aber wenn du jetzt zum Beispiel sagen würdest, ich würde mich gerne mal mit den Beschäftigten unterhalten, dann kann das garantiert nie in Abwesenheit eines Nichtbehinderten machen. Es gibt ein Wort dafür, das nennt sich PLOT, also People Living of Disabled, also Menschen, die am Thema Behinderung einfach Geld verdienen und selber keine Behinderung haben. Es gibt ja diese Charta für Vielfalt und es gibt diese ganzen Vielfaltskonferenzen und so. Und ich habe manchmal den Eindruck, entweder nur noch von Männern und Frauen die Rede ist auf solchen Veranstaltungen und manchmal noch People of Color, aber die Dimension Behinderung eigentlich als letzt oder gar nicht mitgedacht wird. Fällt dir das auch auf?
Lunia Hara: Es fällt mir auch auf und ich hatte dazu auch mal einen Beitrag geschrieben, das soll letztendlich aufzutun. Was wäre eigentlich, wenn die Frauenquote morgen erfüllt wäre? Wer würde dann auf der Führungsetage sitzen? Ist das die Zukunft, die wir eigentlich wollen, auf die wir hinzuarbeiten? Und das ist eigentlich im Jahre 2024 nicht mehr eine Frauenquote sein sollte, wenn wir über eine Quote sprechen, dann bitte eine Diversity-Quote, dass wir alle Dimensionen betrachten, weil das ist nachhaltiger. Es ist ein Grundproblem und wir brauchen eine nachhaltige, gesamthafte Lösung.
Raul Krauthausen: Und vielleicht ist es sogar ein Grundproblem mit keinem Endziel. Vielleicht ist es einfach ein sich permanent reflektieren, hinterfragen, wo können wir besser werden. Aber es ist nicht so, dass es eine Checkliste gibt, die wir irgendwann abgehakt haben. Nachdem wir alle Vielfaltmerkmale einmal durch haben, können wir auch wieder über Intersektionalitäten reden. Und dann wird es nochmal komplex.
Joel Kaczmarek: Sag mal, vielleicht ist es ja auch ein schönes Stichwort. In unserem Vorgespräch hatte Dunja dich ja auch auf einen Beitrag angesprochen, den du mal veröffentlicht hast. Da ging es um ruinöse Empathie. Was hat es denn damit auf sich?
Raul Krauthausen: Ja, ich bin auf den Begriff gestoßen im Kontext eines Videos von Robert Habeck. Ich glaube, es war vor einem Jahr oder vor anderthalb Jahren. Da ging es um die Frauenquote in Unternehmen. Und er hat dann in einem Instagram-Video sinngemäß gesagt, dass es total wichtig ist, dass in Führungsetagen Vielfalt existiert und dass man darauf achtet und so weiter. Er hat aber vermissen lassen, was er als Wirtschaftsminister, der er nun mal ist, gedenkt zu tun. Das heißt, er ist empathisch, aber eben ruinös, weil er nicht sagt, was er als jemand mit Macht und Verantwortung tut, um die Situation zu verbessern. Dieses Nicken, dieses, ja, ja, stimmt, wir sind alle vielfältig oder ja, ja, wir haben alle ein Päckchen zu tragen, ja, ja, es gibt kein Normal, muss dann irgendwann auch unterlegt werden mit einer Aktion. Und wenn das nicht passiert, dann ist es eher kontraproduktiv und führt, glaube ich, im Falle von der Politik zu so einer Politikverdrossenheit, weil sagen können sie viel. Markus Söder ist ja der Meister darin, der hängt ja sein Fähnchen permanent in den Wind, so wie er glaubt, dass gerade das Volk es will. Heute sagt er Höhe und morgen sagt er Hot.
Joel Kaczmarek: Was siehst du denn so, wenn wir jetzt mal an die Arbeitswelt denken, als die größten Barrieren, die gerade so bestehen? Also was gehört eigentlich aus dem Weg geräumt?
Raul Krauthausen: Ein Ansatz könnte sein, zu hinterfragen, wenn man sagt, wir würden ja, aber es bewirbt sich niemand. Dass man dann nochmal genauer schaut, wo hat man denn nachgeguckt. Bei Stepstone, wenn man da eine Anzeige schaltet. Okay, ist die Wahrscheinlichkeit tatsächlich nicht hoch, dass ein BewerberIn mit Behinderung sich bewirbt, weil da natürlich auch schon sehr viele negative Erfahrungen gemacht wurden. Ich kenne Leute, die haben 400 Bewerbungen geschrieben mit einem akademischen Abschluss und wurden noch nicht mal eingeladen. Wenn Menschen schon in der Bewerbung kundtun, dass sie eine Behinderung haben, wäre es schon mal ein erster Schritt, sie auf jeden Fall einzuladen. Und dann so nochmal die Gelegenheit, sich kennenzulernen, auch seine eigenen Vorurteile vielleicht zu hinterfragen. Ich kann mich an einen Bewerbungsprozess erinnern, den ich mal hatte. Da habe ich mich beworben, Praktikum in der Agentur. Und ich habe lange überlegt, ob ich meine Behinderung preisgebe in der Bewerbung. Und es wäre albern gewesen, sie nicht preiszugeben und dann dort zu erscheinen. Und alle sind irgendwie mehr oder weniger irritiert. Dann dachte ich, ich schreibe sie in die Bewerbung rein. Weil man sieht es mir so oder so früher oder später einfach eh an. Habe dann das aber so formuliert, die Personalerin nicht das als Ausrede benutzen kann. Also ich habe dann gesagt, ja, da ich im Bolschi sitze, wäre es wichtig zu wissen, ob ihr Ort barrierefrei ist für das Bewerbungsgespräch. Andernfalls müsst ihr uns woanders treffen. Irgendwie so. Und das heißt, sie hat jetzt nicht das Argument zu sagen, ja, unser Gebäude ist nicht barrierefrei, deswegen laden wir sie nicht ein. Weil ich habe ihr einen Ausweg gezeigt. Sie war so neugierig zu wissen, was könnte denn dieses anders sein, dass sie mich deswegen einlud. Und das war für sie, glaube ich, der Schritt, dann zu begreifen, okay, der sitzt halt auch nur im Rollstuhl. Ja, der kann ja trotzdem am Computer sitzen und trotzdem die Arbeit machen. Diesen Schritt zu gehen, ist glaube ich das, und das weiß man auch aus zahlreichen Studien, ist immer die größte Hürde. Also der erste Bewerber, die erste Bewerberin mit Vielfaltsmerkmal, mit Behinderung, ist immer die größte Überwindung für ein Unternehmen. Und wenn man es dann aber mal gemacht hat, dann haben natürlich die Belegschaften, die Personalabteilung, die Geschäftsführung das gelernt, wie das funktioniert und dass es gelingen kann. Und dann ist es in der Regel auch leichter. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Großkonzerne ihre Quoten eher erfüllen als KMUs. Und wenn man jetzt sagt, okay, ich bin ein Startup aus Berlin-Kreuzberg und ich möchte meine 40-köpfige Belegschaft mit Vielfalt haben, empfiehlt es sich, genauer zu schauen, in welchen Gewerken suchen wir denn? Also suchen wir zum Beispiel Grafikdesign oder suchen wir Programmierung? Ob es da nicht zum Beispiel Ausbildungsstätten gibt, die behinderte Menschen auch ausgebildet haben? Und da gibt es in Berlin-Brandenburg zum Beispiel Berufsbildungswerke. die auch die Kommunikationsdesignerin ausbilden mit Behinderung. Die haben auch Tage der offenen Tür, da kann man auch die Leute kennenlernen und dann einfach direkt eiskalt abwerben. Das meine ich mit Headhunting vorhin, dass man dann vielleicht auch mal schon ein bisschen in sich mehr Mühe machen muss. Die wachsen nicht an Bäumen.
Lunia Hara: Bei vielen gilt ja auch mal so dieser Vorurteil, hey, die wirst du schwer los und sich deswegen dann eher sträuben, manche einzustellen. Wie siehst du das? Muss da tatsächlich was vom Gesetzgeber nochmal gemacht werden, um zu unterstützen?
Raul Krauthausen: Ja, ich glaube, diese Ausrede ist einfach zu kurz gebracht. Das sagen dann eher Leute, die wirklich keinen Bock haben. Aber Fakt ist auch, es gibt Möglichkeiten, Menschen mit Behinderung zu entlassen. Das ist nicht unmöglich. Da muss halt der Betriebsrat, wenn man einen hat, zustimmen. Und die sehen das oft dann auch ein, wenn es nötig ist. Das ist jetzt ein Grund, zu dem sie gar nicht erst einzustellen. Es hat ja auch einen Grund, warum es diese verbesserten Arbeitsbedingungen für behinderte Menschen gibt. Oder rechte Regeln. Also mehr Urlaubstage zum Beispiel oder Freizeit. Das Recht auf Assistenz am Arbeitsplatz oder Fördergelder, die auch der Arbeitgeber beantragen kann, wenn man einen Menschen mit Behinderung anstellt. Das ist schon sinnvoll, dass es das gibt. Ich würde das jetzt ungerne kürzen. Ich würde eher den Unternehmen die Angst nehmen, wenn die Leute wirklich loswerden. Mist, dann geht das auch.
Joel Kaczmarek: Gibt es denn ansonsten eigentlich, sage ich mal, von dem reinen Physik her oft Faktoren, die problematisch sind? Also das Intranet, was nicht barrierefrei ist, die Büros, die keine Fahrstühle haben, nicht ebenerdig sind. Weißt du, was ich meine? Also ist das ein häufiges Thema?
Raul Krauthausen: Also Büros, die keine Fahrstühle haben, ja. Intranets und Apps und Websites, die nicht barrierefrei sind, da gibt es ab 2025 die Verpflichtung, dass diese barrierefrei sein müssen. Und das bedeutet in dem Fall für Menschen mit Sinnesbehinderung. Also das heißt für blinde Menschen mit Audiodeskriptionen vorlesbar und für gehörlose Menschen Videos mit Untertiteln. Jemand, der im Rollstuhl sitzt, der braucht keine barrierefreie Website. Aber der braucht dann einen Aufzug. Und da fehlt zum Beispiel die Verpflichtung, dass das Gebäude einen Aufzug braucht. Auch weil das natürlich viel aufwendiger ist, einen Aufzug nachträglich in den Altbau einzubauen, als eine Website barrierefrei zu machen. Aber es gibt noch eine andere Hürde, über die wir noch nicht gesprochen haben. Ich hatte mal ein Gespräch mit einer Informatikkauffrau, die sehr lange damit gehadert hat, ob sie die Ausbildung anfangen soll, weil in der Beschreibung zur Ausbildung gesagt wurde, man müsse schwer heben, weil man die Computer und Bildschirme von A nach B tragen muss. Und sie hatte aber eine Herzerkrankung und durfte sich körperlich nicht überanstrengen. Und die Arbeitsagentur hat ihr davon abgeraten. Dann hat sie trotzdem diese Ausbildung begonnen und am Ende ihrer Ausbildung erinnerte sie sich an das Gespräch mit der Arbeitsagentur und sie musste kein einziges Mal einen Computer tragen. Warum nicht? Weil man alles nur noch mit Tablets und Laptops macht. Und nicht mehr mit diesen großen Röhrenmonitoren und Desktop-PCs. Das heißt, die hat dann nachgeforscht, wo kam das denn eigentlich alles her? Und es stellte sich heraus, dass die Arbeitsbeschreibung, die Jobbeschreibung einfach nie aktualisiert wurde. Da wurde einfach Copy-Paste und Copy-Paste von Jahr zu Jahr, von Ausbildung zu Ausbildung, Jobbeschreibung zu Jobbeschreibung gemacht. wo dann teilweise noch stand, du musst Monitore von A nach B tragen, obwohl das gar nicht mehr oder super selten der Fall ist. Oder wenn, dann sind es halt Flachbildschirme, die einfach nichts mehr wiegen. Da macht es zum Beispiel auch mal Sinn zu schauen, ist das noch aktuell, was wir brauchen? Und es ist wirklich kritisch, dass die Person das können muss. Als ich mich beim Radio beworben habe, da hieß es, ja, und wie machst du das dann, wenn du einen Ordner aus dem vierten Regalfach haben willst? Nach meinen vier Jahren im Radio kann ich euch sagen, ich habe noch nie einen Ordner gebraucht. Wenn ich am Computer gesessen habe. Ich weiß nicht, wo das herkommt. Vielleicht hat man das früher alles auf Papier gemacht, aber damals hatten die auch schon E-Mails, als ich beim Radio gearbeitet habe.
Lunia Hara: Aber die Frage, wer ist dafür verantwortlich? Wer kümmert sich um diese Dinge?
Raul Krauthausen: Und da hatte ich mal ein Gespräch, das fand ich interessant, aber da bist du wahrscheinlich die Expertin, dass die Personalerinnen mir oft gar nicht diejenigen sind, die die Kolleginnen werden von der Stelle, die ausgeschrieben wird. Und die dann oft auch gar nicht wissen, was überhaupt an dem Job gebraucht wird. Und dann lassen die sich das halt von den Vorgesetzten geben und dann formulieren die das vielleicht irgendwie so, wie sie glauben, dass es benötigt wird. Aber es gibt ja kaum Kontakt von der Personalabteilung zum Azubi oder zur Seniorin in einem anderen Gewerk. Und da, glaube ich, könnte man noch besser sein.
Lunia Hara: Ich überlege gerade, wie das bei uns ist. Da ist es schon teamgetrieben, dass wir doch auch Vorstellungsgespräche im Team haben oder das Team sagt, was man halt braucht. Was mir fehlt, ist nochmal vielleicht das Thema Diversity. Dass man nicht sagt, okay, wir brauchen jetzt einen Programmierer, sondern Hey, wenn wir jetzt schon einen Programmierer brauchen, muss das jetzt jemand Weibliches sein? Also das denkt man ja eher mit. Andere Dimensionen wird es dann halt schon wieder weniger. Wenn eine neue Position frei wird, wo wir wissen, das kann auch Personen so erfüllen, wollen wir das nicht aktiv angehen. Und das eigentlich, glaube ich, heute noch. zu wenig passiert, weil aber halt auch Zahlen fehlen und einfach eine Strategie. Bei der BBC ist ein gutes Beispiel, wie sie Diversität bezüglich ihrer Sendungen und aber auch Arbeit erhöht haben. Die haben sich beispielsweise Gesamtbevölkerung angeschaut und nehmen da die Quoten und sagen, muss ich halt in ihrem Programm widerspiegeln. Und das finde ich halt auch erstmal einen guten Ansatz, zumindest mal als Staat.
Raul Krauthausen: Und dann wäre natürlich der nächste Schritt, wenn wir jetzt das Thema Fernsehen in Deutschland nehmen, dass wir People of Color oder Menschen mit Behinderung nicht nur dann einladen, wenn Diversität das Thema ist. Andere Themen sprechen lassen, wo du ja wahrscheinlich auch Leidenschaften hast, aber selten zu befragt wurdest.
Joel Kaczmarek: Vielleicht abschließende Frage an dich. Wenn du jetzt das Zepter des Handels in der Hand hättest, wenn du jetzt Politiker wärst zum Beispiel oder irgendjemand, der irgendwie Einfluss nehmen kann so auf die Gesellschaft, auf die Arbeitswelt als Ganzes, was würdest du tun?
Raul Krauthausen: Ich glaube, ich würde gesetzlich regeln, dass Unternehmen barrierefrei sein müssen, Produkt- und Dienstleistungen und dass sie ihre Quoten erfüllen müssen. Und wenn sie es nicht tun, die Strafen einfach so hoch sind, dass Unternehmen sich verletzen. aus rein marktwirtschaftlichen Gründen Lösungen überlegen. Und wir sehen das auch in bestimmten Bereichen, dass das funktioniert. Es gibt viele Produkte, die, sagen wir mal, erfunden wurden für Menschen mit Behinderung und da eine große Innovationskraft auch herkommt. Und erst als sie, sagen wir mal, Mainstream wurden, wurden diese Produkte auch gut. Untertitel. Untertitel, seitdem wir sie auf Netflix brauchen, geben sich ja Leute Mühe. Sprachcomputer, Siri, Alexa und Co. waren ursprünglich mal super grässliche Teile, die Menschen mit Behinderungen hatten, die super teuer waren, womit sie das Telefon steuern konnten. Und es war super schlecht, man wurde nie verstanden von diesen Geräten. Und plötzlich baut Apple sowas oder Amazon und dann werden die Dinge gut, weil es einfach Geld dahintersteckt und da investiert wird. Musik. Und inzwischen haben viele Menschen mit Behinderung diese Produkte, weil sie einfach besser sind als das, was sie vorher hatten. Und diese Wechselwirkung, glaube ich, kann sehr viel Innovation hervorbringen. Die Digitalisierung hilft uns da auch, Barrieren abzubauen, wenn wir behinderte Menschen von Anfang an mitdenken. Ich habe da ein Beispiel, das bringe ich immer ganz gerne mit. Ich bin jetzt seit zwei Jahren Hörgeräteträger. Und da war ich beim Ohrenarzt und da habe ich gedacht, das ist ein Schwerbericht, sie brauchen jetzt Hörgeräte. Und das hat mich erstmal so frustriert, wenn du so mit Anfang 40 erfährst, okay, du bist nicht nur eine Brillenschlange und ein Rollstuhlfahrer, sondern jetzt brauchst du auch ein Hörgerät, das ist jetzt auch eher ein Downer. Und dann stand ich vor diesem Hörgeräteakustiker, also dieser Laden, wo man die Dinge halt kauft, hab mir selbst so die Frage gestellt, wie gehst du da jetzt rein? Gehst du da als Patient rein oder gehst du da als Nerd rein? Und ich bin halt als Nerd reingegangen, weil ich mag Technik und dachte, okay, wenn du da jetzt reingehst, dann bist du halt auch den geilsten Scheiß. Ich stieß auf einen Hörgeräteakustiker, der selber auch Nerd ist. Und wir haben dann zwei Stunden lang generdet, haben uns über Hörgeräte unterhalten und dann meinte er, ja, also pass doch mal auf, ich empfehle Ihnen dieses Modell, das ist zwar arschteuer, aber das ist halt gerade der heiße Scheiß am Hörgerätemarkt. Und wissen Sie was, mit der ganzen KI, die jetzt gerade kommt, die nächsten fünf bis zehn Jahre wird ein Fest in der Hörgeräteindustrie, weil da Quantensprünge passieren. Also es gibt keine Batterieprobleme mehr zum Beispiel. Die Akkus halten lang genug. Früher hatte ich Klassenkameraden mit Hörgeräten, die viermal am Tag die Batterien gewechselt haben. Das Problem gibt es einfach nicht mehr. Das ist einfach weg. Das heißt, du hast jetzt Akkus und die halten 24 Stunden und wenn du schläfst, kannst du halt deine Hörgeräte aufladen. Früher galten Menschen als sehbehindert, wenn sie eine Brille trugen. Und jetzt ist die Brille ein Modeaccessoire. Und das Gleiche wird passieren mit Hörgeräten, weil die AirPods inzwischen ein Modeaccessoire geworden sind. Und dass vor zwei Jahren in den USA der Hörgerätemarkt liberalisiert wurde, bedeutet, ich kann jetzt over the counter, also am Schalter von Mediamarkt und Co. Hörgeräte kaufen, ohne ein ärztliches Attest. Das ist ein Milliardenmarkt geworden plötzlich für Sony, Samsung und Apple, die jetzt quasi in diesen Markt reingehen. Das heißt, wir werden in Zukunft Hörgeräte haben, die aussehen wie Airpods oder Airpods sind, die aber Hörgerätefunktionen haben. Das passiert gerade. Jetzt nächste iOS-Update 18, da können die Airpods Pro 2 nicht nur canceling, sondern auch Verstärkung von Tönen. Und dann haben sie damit den Markt der Hörgeräte betreten. Das ist alles ein Spektrum. Gilt man dann eigentlich als herrbehindert, wenn man ein Airpod im Ohr hat?
Joel Kaczmarek: Crazy. Also ich sehe schon, hier steckt noch Futter für weitere Aufeinandertreffen mit dir. Alle guten Dinge sind mal mindestens drei. Für den Moment ganz herzlichen Dank. War wie immer augenöffnend und einfach interessant, auch dieser Perspektivwechsel, den ja Lunja genannt hat. Und genauso natürlich auch dir. Vielen Dank, liebe Lunja. War viel zu lange, dass du nicht mehr hier warst. Also schön, dass wir da einen Stelldichein hatten.
Lunia Hara: Vielen, vielen Dank, Raul. Also ich habe dieses Gespräch sehr genossen, viele neue Sachen gelernt, aber auch viele Parallelen entdeckt. Und danke dir für diesen Austausch.
Raul Krauthausen: Ich danke dir.
Diese Episode dreht sich schwerpunktmäßig um Diversity: Lasst uns Organisationen neu, offen und tolerant denken! Nachdem wir anfangs die Organisationsentwicklerin Marina Löwe und Ratepay-Gründerin Miriam Wohlfarth wiederholt vor dem Mirko hatten, um dich für Diversity zu sensibilisieren, diskutiert Joel mittlerweile regelmäßig mit Lunia Hara (Diconium) zu Themen rund um Leadership und Diversity. Dabei geht es den beiden explizit nicht um Mann oder Frau, sondern um die Schaffung von Empathie füreinander sowie ein ganzheitliches Bild und Verständnis für verschiedene Rollen und Perspektiven.